Arbeit – Bewegung – Geschichte: Töchter ihrer Klasse?

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Titel
Arbeit – Bewegung – Geschichte: Töchter ihrer Klasse?.


Herausgeber
Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V.
Reihe
Zeitschrift für historische Studien
Erschienen
Berlin 2023: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
212 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mette Bartels, Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF), Kassel

Das aktuelle Heft der Zeitschrift „Arbeit – Bewegung – Geschichte“ wendet sich unter dem Titel „Töchter ihrer Klasse?“ einer Personengruppe zu, die in der gegenwärtigen Forschung eher randständig wahrgenommen wird: die proletarische Frauenbewegung im Zeitraum des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik.1 Redaktionell begleitet haben das Heft die Sozialwissenschaftler:innen Jana Günther und Vincent Streichhahn – beide ausgewiesene Kenner:innen der Arbeiterinnenbewegung. Um die Geschichte, das Selbstverständnis und das Agieren der proletarischen Feministinnen in Gänze verstehen zu können, sind die beiden Ordnungskategorien Geschlecht und Klasse essentiell. In der bisherigen wissenschaftlichen Forschung oder auch in politisch-tradierten Beiträgen wurden beide Kategorien allerdings zumeist getrennt voneinander betrachtet, was dazu führte, dass die inhaltlichen Überschneidungen und Berührungspunkte zwischen Arbeiterbewegung und Frauenbewegung sowohl in Überblickswerken als auch in Regionalstudien oft nicht abgebildet wurden.2 Mittels einer intersektionalen Betrachtungsweise nimmt das Heft eine Perspektive ein, die sich als Gegensatz zur klassischen Forschung versteht. Die Frauenbewegung wird eben nicht als eine in sich starr abgegrenzte Gruppierung betrachtet, sondern die Verflechtungen und der Austausch zwischen proletarischer und bürgerlicher Frauenbewegung werden betont. Wichtig hierbei ist den Redakteur:innen allerdings gleichzeitig, „nicht blind für klassische Diskriminierung und unterschiedliche ökonomische Hintergründe der Protagonistinnen“ zu sein (S. 8). Mit diesem Anliegen knüpft die aktuelle Ausgabe von „Arbeit – Bewegung – Geschichte“ an ein bereits 2019 erschienenes Heft an, das das Verhältnis von Klasse und Geschlecht als Schwerpunkt thematisierte und untersuchte, wie die sogenannte Frauenfrage in sozialistischen und auch bürgerlichen Bewegungen verhandelt worden ist.3

Das aktuelle Heft versammelt sechs Beiträge von Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen zum Schwerpunktthema, zwei Vorstellungen von geschichtspolitischen Initiativen, zwei Tagungsberichte sowie einen umfassenden Rezensionsteil mit 18 Buchbesprechungen.

Den Auftakt machen die beiden Gastredakteur:innen Jana Günther und Vincent Streichhahn mit einem Forschungsüberblick, der eine Überleitung zu den weiteren Beiträgen enthält. Nach einigen zentralen und heute noch wichtigen Forschungsarbeiten aus den späten 1970er- und 1980er-Jahren über die proletarische Frauenbewegung nahm das Forschungsinteresse – im Gegensatz zur bürgerlichen Frauenbewegung – massiv ab, sodass sich der derzeitige Forschungsdiskurs als problematisch bezeichnen lässt. Einige Wissenschaftler:innen lehnen es gar ab, die proletarische Frauenbewegung als eigenständige Bewegung zu begreifen, da sie unter dem Dach der Sozialdemokratie organisiert war. Diese Perspektive hatte und hat zur Folge, dass die proletarischen Aktivistinnen marginalisiert und aus der Bewegungsgeschichte herausgeschrieben werden. Auch wenn neuere Forschungen zur Frauenbewegungsgeschichte darum bemüht sind, die Heterogenität der Bewegung zu betonen, zeigt die Forschungspraxis ein anderes Bild, indem die proletarische Frauenbewegung zunehmend an den Rand gedrängt wird. Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf weitere Forschungen betonen Günther und Streichhahn das wichtige Anliegen des Heftes, der Heterogenität der Bewegungsgeschichte Rechnung zu tragen und der proletarischen Frauenbewegung zu „ihrem Recht zu verhelfen“ (S. 14).

Den Vorwurf, die proletarische Frauenbewegung sei keine eigenständige Bewegung gewesen, kann Thomas Höpel in seiner Lokalstudie am Beispiel der Stadt Leipzig fundiert widerlegen. In vergleichender Perspektive und gesättigt durch grafisches Daten- und Zahlenmaterial untersucht Höpel das Wirken der bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegung in der Zeit von 1890 bis 1933. Er kann zeigen, dass sich die proletarischen Aktivistinnen – anders als die bürgerlichen Gruppierungen – in ihrer Arbeit auch klassenübergreifenden Themen zuwandten und sich als eigenständige Bewegung etablieren konnten, selbst wenn sie bei der praktischen Umsetzung letztendlich an den bürgerlichen Parteien im Stadtparlament scheiterten. In der Weimarer Republik konnte sich eine Vielzahl proletarischer Frauenrechtlerinnen in ihrer politischen Arbeit weiter professionalisieren, die sich teils auch nach dem Zweiten Weltkrieg für den Wiederaufbau sowohl in der Bundesrepublik als auch der DDR engagierten.

Mittels einer qualitativ-inhaltlichen Analyse nimmt Christina Engelmann die Präsenz der proletarischen Frauenbewegung innerhalb der Arbeiterbewegung in den Blick. Durch die Auswertung einer breiten Quellengrundlage – die Zeitschriften „Die Gleichheit“, „Frauen-Beilage der Leipziger Volkszeitung“, „Die Kommunistin“ und „Die kommunistische Fraueninternationale“ – sowie Schriften aus dem Nachlass Clara Zetkins zeichnet Engelmann eindrucksvoll nach, wie Sozialistinnen die traditionellen Geschlechterrollen – die eben auch mehrheitlich von den Sozialdemokraten vertreten wurden – infrage stellten und eigene gesellschaftliche und politische Partizipationsräume erkämpften.

Während in der Forschung zur anarchistischen Frauenbewegung zumeist der Frauenbund der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) präsent ist, nimmt Kena Stüwe Frauen in den Blick, die im anarchistischen Milieu aktiv waren und sich in kleineren Gruppen organisierten. Anhand einer explorativen Analyse von Artikeln und Broschüren aus anarchistischen Kontexten lotet Stüwe aus, wie sich die kleinen Frauengruppen zu Themenfeldern der Frauenemanzipation sowie zu reproduktionspolitischen Fragen (Schwangerschaftsabbruch und Mutterschaft) positionierten. Stüwe kommt zu dem Schluss, dass die Anarchistinnen – die keine homogene Gruppe bildeten – verschiedene Verständnisse von Feminismus und Emanzipation hatten, aber übereinstimmend in den angestrebten Veränderungen der Geschlechterbeziehungen ein revolutionäres Potential erkannten. Alle von Stüwe vorgestellten Anarchistinnen gingen von der Gleichwertigkeit von Männern und Frauen aus und betonten die Unvereinbarkeit anarchistischer Überzeugungen mit der politischen, rechtlichen und ökonomischen Schlechterstellung von Frauen.

Robert Sobota beschreibt am Beispiel des Jenaer Hausfrauenbundes die Integration von nichterwerbstätigen Frauen in das Rätesystem zwischen 1919 und 1921. Mitglieder des Hausfrauenbundes waren Anhängerinnen der KPD und USPD sowie parteiungebundene Hausfrauen. Sobota begreift den Jenaer Hausfrauenbund als Gegenentwurf zur mangelnden Repräsentation von Frauen durch die Rätebewegung, da er eine weibliche Beteiligung ermöglichte und die klassischen Sphären und Zuordnungskategorien von männlicher Öffentlichkeit und weiblicher Privatheit überschritt, auch wenn der Hausfrauenbund dezidiert „weibliche“ Themen (z.B. Lebensmittelverteilung) auf seiner Agenda hatte. Sobota kann zeigen, wie durch den Jenaer Hausfrauenbund ein neues Licht auf die Beziehung zwischen Rätebewegung und Frauenbewegung geworfen werden kann und sich dies als Potential einer Verbindung von Arbeiterbewegung und proletarischer Frauenbewegung begreifen lässt.

Marleen Buschhaus untersucht in ihrem Beitrag das Verhältnis der proletarischen Frauenbewegung zum deutschen Kolonialismus und stellt sich gegen die mehrheitliche Forschungspraxis, Kolonialismus nur dort zu untersuchen, wo er offensichtlich ist. Dass auch die proletarischen Frauenaktivistinnen an der kolonialen Frage partizipierten und Emanzipationskonzepte ausloteten, kann Buschhaus plausibel durch die systematische Auswertung der Zeitschrift „Die Gleichheit“ darlegen. Buschhaus kann aufzeigen, dass koloniale Denkmuster in die Argumentationsstrategien der proletarischen Frauenbewegung für Frauenrechte und Arbeiter:innenkampf einflossen und sich zudem mit anderen Diskursen verschränkten.

„Töchter ihrer Klasse“ ist ein ausgesprochen gelungenes Themenheft von „Arbeit – Bewegung – Geschichte“, und das auf gleich mehreren Ebenen: Erstens besticht die interdisziplinäre Zusammenstellung der Artikel. Zweitens regt jeder Artikel zu weiterführenden Forschungen an, was belegt, dass die proletarische Frauenbewegung noch lange nicht „ausgeforscht“ ist. Drittens werden sich hartnäckig haltende Forschungsnarrative, die der proletarischen Frauenbewegung eine eigenständige Existenz absprechen, überzeugend widerlegt. Viertens wird die Wirkmächtigkeit und Verwobenheit der Kategorien Class, Gender und Race mehr als deutlich, was sich als Plädoyer verstehen lässt, diese Parameter bei zukünftigen Forschungen zu sozialen Bewegungen immer mitzudenken. Die Autor:innen des Heftes lassen mit ihren Artikeln hoffen, dass in naher Zukunft einige sehr wichtige Arbeiten entstehen, welche die Forschungslandschaft zur proletarischen Frauenbewegung immens bereichern werden.

Anmerkungen:
1 Eine intensiviere Erforschung der proletarischen Frauenbewegung fand lediglich in den 1980er-Jahren statt: Elisabeth Haarmann, Schwestern zur Sonne zur Gleichheit. Die Anfänge der proletarischen Frauenbewegung, Hamburg 1985; Sabine Richebächer, Uns fehlt nur eine Kleinigkeit. Deutsche proletarische Frauenbewegung 1890–1914, Frankfurt am Main 1982; Heinz Niggemann, Emanzipation zwischen Sozialismus und Feminismus. Die sozialdemokratische Frauenbewegung im Kaiserreich, Wuppertal 1981.
2 Zum Beispiel Ralf Hoffrogge, Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich. Von den Anfängen bis 1914, Stuttgart 2017; Karsten Rudolph, Die Thüringer Arbeiterbewegung vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik, Erfurt 2018.
3 Arbeit – Bewegung – Geschichte. Zeitschrift für historische Studien 18 (2019) H. 3, Schwerpunkt: Klasse und Geschlecht.

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